Erschienen im Deutschen Yoga-Forum 06/2004.

Unsere Gesellschaft ist in Veränderung begriffen. Immer mehr Menschen spüren, dass Leben in der Verbindung von Körper, Geist und Seele essentiell wichtig ist. Und so wächst das Interesse an allen Bewegungs- und Körperbewusstseinstechniken, die diese Verbindung als Grundlage ihres Übens begreifen und in dieser Integrität Körperarbeit, Bewegung und schließlich das Leben selbst gestalten wollen. Im Zuge des Aufkommens dieser „Mind-Body“-Programme, wie sie in der Sprache der Fitnessbranche genannt werden, ist auch das Übungsprogramm von Joseph Pilates (1880-1967) sehr beliebt geworden. Seine ursprünglichen Übungen wurden Ende der achziger Jahre in Amerika den Erkenntnissen der modernen Physiotherapie angepasst und so einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht, nachdem seine Übungen mehr als 60 Jahre lang vor allem von Tänzern praktiziert wurden. Was aber ist das Pilates Training, das nach seinem Begründer auch kurz Pilates genannt wird? Was ist das Faszinierende daran? Und: wer war Joseph Pilates?

Der Mensch Joseph Pilates

1880 in der Nähe von Düsseldorf geboren, litt Pilates als Kind unter unzähligen Krankheiten. Asthma, Rheuma und Rachitis erweckten in ihm den tiefen Wunsch nach einem kräftigen und gesunden Körper – und nach einem Körper, den er unter Kontrolle hatte. Es war sein persönlicher Antrieb, sich mit den verschiedenen Leibesertüchtigungstechniken, die um die Jahrhundertwende in Europa populär wurden, wie zum Beispiel der Gymnastikbewegung, intensiv auseinander zu setzen. Außerdem studierte er Yoga und praktizierte Zen-Meditation. In England verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Boxer und Akrobat. Während des 1. Weltkrieges wurde er dort als Deutscher interniert. Mit den Stahlfedern der Lazarettbetten entwickelte er spezielle Trainingsgeräte zur Rekonvaleszenz von bettlägerigen Patienten. Dazu gesellte sich in den zwanziger Jahren sein Bodentraining, welches er in  seinem 1945 erschienenen Buch „Return to life through Contrology“ genau beschrieben hat. Heute wird  überwiegend das Training auf der Matte praktiziert, welches genauso effektiv ist wie das Gerätetraining. Pilates selbst nannte seine Übungsmethode  „Contrology“.

Als Joseph Pilates nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt war, verlangte die deutsche Regierung, dass er seine nunmehr schon sehr erfolgreiche Trainingsmethode auch für deutsche Soldaten anwenden sollte. Das zwang den überzeugten Pazifisten Pilates 1926 zur Auswanderung nach Amerika. In New York eröffnete er sein erstes Studio. Sein umfangreiches Boden- und Geräteprogramm begeisterte vor allem Tänzer wie Martha Graham, George Balanchine und Hanya Holm.  1964 berichtete die "New York Herald Tribune", dass viele junge Tänzer in Amerika ihr tägliches Training mit Pilates begannen.

Heute, mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod, ist seine Übungsmethode aktueller und überzeugender denn je. Mittlerweile steht der Name seines Schöpfers für ein Übungssystem wie z.B. das des Yoga oder des Karate. Die vormals gesetzlich geschützten Bezeichnungen "Pilates" und "Pilates – eine Übungsmethode nach Joseph H. Pilates" unterliegen seit kurzem nicht mehr dem Warenzeichenrecht und können frei verwendet werden.
Was sind Pilates-Übungen?

Pilates-Übungen sind fließend ausgeführte Körperübungen (meist auf der Matte oder an speziellen Geräten), die nach bestimmten Prinzipien durchgeführt werden und die teilweise große Ähnlichkeit mit Yoga-Asanas aus dem Hatha-Yoga besitzen. Das Entscheidende hierbei ist jedoch die Art und die Ausführung der Übungen. Dies soll im folgenden verdeutlicht werden.

1. Prinzip: Atmung

Jede Bewegung im Pilates ist, ähnlich wie in den Asanas des Hatha-Yoga, mit der Atmung verknüpft. Die Atmung organisiert die Bewegung, das heißt die Bewegung geschieht im Fluß der Atmung. Meist wird im Pilates der anstrengende Teil einer Übung jedoch mit der Ausatmung ausgeführt, was vom Atemrhythmus vieler Yogaübungen abweicht. Betrachten wir als Beispiel die Vorübung „Basic Bridging“, das mit setu bandha, der Schulterbrücke im Yoga, vergleichbar ist.  Hier wird mit dem Einatmen die Übung vorbereitet und der Körper in die Ausgangsposition gebracht. Im Unterschied zum Hatha-Yoga wird mit dem Ausatmen die Wirbelsäule Wirbel für Wirbel vom Becken ausgehend aufgerollt.  In der Einatemphase wird die Bewegung gehalten und verlängert und mit der nächsten Ausatmung wird die Wirbelsäule wieder nach unten abgerollt. Das ist wiederum identisch mit der Hatha-Yoga-Praxis.
Im Pilates werden nur die laterale und posteriale Atmung verwendet. Bei der lateralen Atmung  wird in den seitlichen Rippenkorb geatmet, bei der posterialen Atmung in die Körperrückseite. Hilfsmittel für die laterale Atmung ist ein Gegendruck der Hände, die auf die seitlichen Rippen aufgelegt werden. Mit dem Einatmen sollen die Hände zur Seite weggedrückt werden.
Die laterale und posteriale Atmung werden im Pilates angewendet, um die Kernkraftkontrolle (vgl. zweites Prinzip) über den Zeitraum der gesamten Übung halten zu können.

2. Prinzip: Axiale Verlängerung und Kernkraft-kontrolle

Steißbein zieht nach unten, Scheitel zieht nach oben. Das Prinzip der axialen Verlängerung bedeutet, dass ich den Körper in jedem Moment der Übung gedanklich und auch physisch auseinanderziehe. Der Körper wächst mit jedem Moment der Übung in die Länge. So gesehen gibt es im Pilates eigentlich keine statischen Positionen. Selbst wenn ich, wie z.B. im „Basic Bridging“, eine Position halte, arbeite ich innerlich und muskulär an dieser Verlängerung weiter. Hier kann man sehr gut den Unterschied zwischen Pilates und anderen Trainingsprogrammen zur Stärkung der Bauchmuskeln sehen. Meistens geht es darum, den Bauchnabel zur Wirbelsäule zu ziehen. Beim Pilates geht es darum, die Bauchmuskeln nach innen und oben zu ziehen. Dieses Prinzip ist bei allen Umkehrübungen sehr wichtig, um eine Kompression der Bandscheiben zu vermeiden.
Kernkraftkontrolle bedeutet, in jeder Phase der Übung – und vor allem in den dynamischen Übungsteilen – die Kontrolle über die richtige Ausrichtung des Körperzentrums zu behalten. In einer Position wie der „Shoulder Bridge“, die im Yoga einer Variation der Schulterbrücke mit einem nach vorn gestreckten Bein entspricht, bedeutet dies, dass die Hüftstellung in jeder Phase der Übung völlig unverändert bleibt. Die Unbeweglichkeit des Beckens auch während der Gewichtsverlagerung wird durch die intensive Benutzung der Kernkraftmuskeln oder des „Powerhouses“, wie Pilates auch sagte, erreicht. Anders ausgedrückt ist das Heben des Beines die Herausforderung für die Kernkraft.

Diese Idee findet bei fast allen Pilates-Übungen Anwendung: die Bewegungen der Beine,  Arme und des Rumpfes dienen dazu, durch veränderte Winkel und Hebel die Herausforderung für die Kernkraft zu erhöhen und diese damit zu stärken. Der Anteil der dynamischen Übungen erhöht sich bei Fortgeschrittenen. Auch hier besteht die Herausforderung dann darin, in dynamischen Übungsteilen die Kernkraftkontrolle beizubehalten.

3. Prinzip: Bewegungseffizienz durch Organisation des Schultergürtels, des Brustkorbs und der Halswirbelsäule

In einer optimalen Haltungsausrichtung nach Pilates ziehen die Schulterblätter nach unten und innen, die Schlüsselbeine werden breit gefühlt und die Halswirbel befinden sich in Verlängerung der Brustwirbelsäule. Durch diese Übungsorganisation wird erreicht, dass zum Beispiel bei einer Übung wie „Roll up“, vergleichbar mit Pascimottanasana im Hatha-Yoga, das Aufrollen des Oberkörpers nicht aus der Kraft der Brust- und Schultermuskulatur passiert, sondern aus der Kernkraft heraus.
An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, wie sehr die Pilates-Übungen dazu anregen, Dysbalancen im Körper auszugleichen: Viele Menschen halten sich aufrecht, indem sie ständig die Schultern nach vorn ziehen. Dies bewirkt mit der Zeit eine Krümmung der Wirbelsäule und kann zu vielseitigen Problemen im Halswirbelsäulenbereich führen. Im Pilates können sie lernen, die Körperspannung auf die richtigen Muskeln zu verlagern. Durch die Erhöhung der Kernspannung im Körper und die Stärkung der oberen Rückenmuskulatur bekommen die oft chronisch verspannten Brustmuskeln die Gelegenheit, sich zu entspannen, da sie nun zum Tragen des Körpers nicht mehr benötigt werden.

4. Prinzip: Artikulation

Bei einer Vorübung wie „Basic Bridging“ bedeutet dies, dass die Wirbelsäule „Wirbel für Wirbel“ auf- und abgerollt wird. Jemand, der im Bereich der Lendenwirbelsäule eine muskuläre Verkürzung hat, legt den unteren Rücken in einem Stück auf den Boden. Die segmentale Bewegung der Wirbelsäule zwingt die Übenden, ihre gesamte Rumpfmuskulatur nacheinander zum Einsatz zu bringen. Es bedeutet auch, dem Rücken und der Wirbelsäule ganz viel Aufmerksamkeit zu schenken.

5. Prinzip: Achsengerechte Belastung des Körpers

Dieses Prinzip beinhaltet, dass die Gelenke achsengerecht übereinander „gestapelt“ werden. In der Vorübung „Vierfüßlerstand“ (Cakravakasana) heißt dies:  Schultergelenk über Ellbogengelenk, Ellbogengelenk über Handgelenk. In der Ausgangsposition zum „Basic Bridging“ stehen die Beine hüftbreit auseinander. Durch die achsengerechte Belastung bei Gewichtsübernahme werden die Muskeln belastet und nicht die Gelenke. Fehlhaltungen und Ausweichbewegungen des Körpers werden somit verhindert.

6. Prinzip: Bewegungsintegration von Kopf, Becken und Extremitäten

Alle Bewegungen werden unter Berücksichtigung der vorhergehenden fünf Prinzipien ausgeführt. Praktisch besagt dies, dass es im Pilates nicht nur einen körperlichen  und mentalen Fokus gibt. Die Übenden nehmen den gesamten Körper immer gleichzeitig in seiner Ausrichtung und Position wahr. Dieser Punkt verdeutlicht die Ganzheitlichkeit des Pilates-Trainings. Das Gewahrsein für den eigenen Körper und die jeweilige Position,  in der er sich gerade befindet, wird verbessert. Im Alltag angewendet, bewahrt dieses Prinzip den Körper vor Fehlhaltungen und Überanstrengungen.

Die Übungsstunde

Der Blick auf die Gesamtheit, der sich im sechsten Prinzip zeigt, steht auch beim Aufbau einer Übungsstunde im Vordergrund. Es wird eine Balance zwischen den verschiedenen körperlichen Bewegungsebenen angestrebt und die Abfolge der Übungen sollte sich in einem natürlichen Bewegungsfluß befinden. Nach der Demonstration sind die Praktizierenden eingeladen, für sich selbst im eigenen Atemrhythmus die Übung auszuführen. Wichtig ist, den Teilnehmern, die Schwierigkeiten haben oder die andererseits schon länger beim Training sind, Modifikationen der Übungen anzubieten.
Es gibt kein offizielles Maß für die Anzahl der Wiederholungen. Jeder Teilnehmer trainiert mit seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Die Qualität, mit der eine Übung ausgeführt wird, ist in jedem Fall wichtiger als die Anzahl der Ausführungen einer Übung.

Imagination

Eine Besonderheit in der Anleitung der Übungen besteht in den bildlichen Vorstellungen, die es für nahezu jede Übung gibt und die helfen sollen, die verschiedenen körperlichen Richtungen und Herausforderungen zu erfassen und die Übungen mit einer körperlichen Leichtigkeit durchzuführen. Beliebte Visualisierungen sind der Faden, der an Steißbein und Scheitel befestigt ist und die Wirbelsäule auseinanderzieht; der Rumpf, der eingegossen in der Erde ist und somit zu einer stabilen Verankerung des Beckens im Boden führt; und die Schultern, die zum Po fließen (siehe Prinzip drei).

Hingabe und Konzentration

Die Verwirklichung aller Pilates-Prinzipien zur selben Zeit stellt in der Übungspraxis eine große Herausforderung dar. Für viele Menschen, die mit Pilates beginnen, ist es eine körperliche und mentale Überforderung. Es gibt sehr oft ein oder mehrere Prinzipien, die dem Übenden entgleiten. Und dennoch entfaltet das Pilates Training gerade mit dieser Integration der verschiedenen körperlichen Prinzipien seine Besonderheit und seinen Anspruch, ganzheitlich zu wirken. Absolute Konzentration und bedingungslose Hingabe an die Übung und den eigenen Körper sind gefragt, um alle Prinzipien gleichzeitig zu erfüllen.
Dadurch versinken die  Außenwelt und die Themen, mit denen die Teilnehmer zum Kurs kommen, meist mühelos in der Vergangenheit. Das Kreisen der Gedanken hört auf, ohne dass dies beabsichtigt wurde. Das Gewahrsein des eigenen Körpers ist so intensiv und herausfordernd, das für alles andere einfach kein Platz mehr da ist.

Fazit

Es soll dem Leser überlassen bleiben, Ähnlichkeiten oder Unterschiede zum Übungssystem des Hatha-Yoga herauszufiltern. Es besteht kein Zweifel darin, dass viele Übereinstimmungen existieren und nur im Detail, insbesondere in der Atemkoordination, die Anweisungen voneinander abweichen. Hier sei daran erinnert, dass es auch im Hatha-Yoga viele verschiedene Unterrichtsstile gibt und dass Joseph Pilates seine eigene Methodik als Instrument der Selbsterfahrung ganz im Geist des Yoga entwickelt hat.

In meinen Kursen bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie schnell und intensiv die Teilnehmer sich auf die Übungen und damit auf sich selbst und ihren eigenen Körper  konzentrieren. Nach der Demonstration kehrt meist  Stille im Raum ein. Die Übenden sinken mit ihrer Aufmerksamkeit nach innen, zu sich selbst, auch wenn dies nicht bewusst so angeleitet wird und als Ziel des Pilates-Trainings formuliert wird:

ES geschieht.

Peggy Pohl

Literatur:

  • Joseph H. Pilates und William John Miller: Return to life through Contrology
    Originalveröffentlichung 1945.
    Neu aufgelegt mit einer neuen Einführung von Judd Robbins und Lin Van Heuit-Robbins, Presentation Dynamics Inc., Incline Village, NV 1998.
  • Sally Searle und Cathy Meeus: Pilates, erschienen in der Reihe Geheime Künste, Taschen GmbH, Kölln 2004.
  • Brooke Siler: Schlank und schön mit Pilates,
    Goldmann Verlag, München 2000.
  • Alycea Ungaro: Pilates,
  • Dorling Kindersley Verlag GmbH, Starnberg 2002.

Informationen zu Pilates finden Sie unter:

www.pilatespolestar.de
www.pilatates.de
www.pilatesbody.de